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„Fehlende Konzepte“, „scheinheilige Heuchelei“ und „erbärmliche Kirchturmpolitik“: Warum nicht nur der gedankenlose Online-Boom die Innenstadt vernichtet

SCHWEINFURT – Es ging um den Einzelhandel bei einem etwas außergewöhnlichen Pressegespräch auf Schweinfurter Marktplatz am Donnerstagnachmittag. Wer eigentlich, wenn nicht Dr. Ulrike Schneider von der Initiative ZUKUNFT. sollte sich diesem Thema annehmen? Natürlich weiß die Stadträtin um die Problematik der Geschäfte. Unabhängig von der Pandemie…

Einzelhandel versus Online-Handel: „Der Innenstadthandel blutet aus – die ganze Zeit schon, und mit Corona noch weitaus mehr“, weiß Schneider und hat deutliche Worte parat, die sich seit Jahren öffentlich kaum jemand auszusprechen traut bei den Verantwortlichen: „In Schweinfurt macht neben dem Online-Handel zusätzlich noch die überflüssige Einzelhandelsfläche in der ECE-Stadtgalerie mit den 23.000 qm Fläche zu schaffen, was die Lage verschärft. Es droht über kurz oder lang die Schließung zahlreicher Geschäfte in der Innenstadt.“

Dem müsse die Stadtviel stärker als bisher entgegenwirken. „Es reicht nicht, in regelmäßigen Abständen neue City-Manager einzustellen und sich darauf auszuruhen. Da der Online-Handel partout nicht höher besteuert wird und die Politik auf Bundesebene schläft, muss eben unten angefangen werden – mit einem Appell an die Bevölkerung, den Online-Handel zu boykottieren und die Innenstadt-Geschäfte zu unterstützen“, so Schneider.

Ein gewichtiges Argument, über das bislang viel zu wenig gesprochen werde, sei der immense ökologische Schaden, den der Online-Handel anrichtet, indem ein Großteil der Retouren verbrannt statt erneut versandt wird. In dem Appell könne das Argument eine gewichtige Rolle spielen, sagt die Stadträtin und nennt zudem die Einkaufszentren auf der Grünen Wiese als gewichtige Gründe für das Sterben der Schweinfurter Innenstadt.

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„Einkaufszentren en masse… jenseits der Ortskerne, nur mit dem Auto erreichbar, alle in einem monotonen Standardkleid und Teil einer fast schon automatisierten Versiegelung unserer Landschaften – zum Schaden der Menschen, zum Schaden der Tiere und zum Schaden der Natur – ohne Not, ohne Vernunft, ohne erkennbaren Nutzen für die Allgemeinheit“, bringt es Schneider auf den Punkt.

Aus aktuellem Anlass wollte sie am Donnerstag Stellung beziehen. In Euerbach wurde vor den Toren des Altorts nun ein Gewerbegebiet aus dem Boden gestampft. Zwischen Grafen- und Bergrheinfeld ist ein Einkaufszentrum auf der grünen Wiese geplant. Und ein Gewerbegebiet hat man sich auch bei Üchtelhausen ausgedacht, „mit der Verschandelung eines wunderschönen Landstrichs“, so Schneider. Erschwerend käme hinzu, dass die meisten der schon gebauten und geplanten Einkaufszentren bestehenden Märkten Konkurrenz machen. „Das ist Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Allgemeinheit, unterstützt von Gemeinderäten, die erbärmliche Kirchturmpolitik betreiben.“

VolkerWedde,BezirksgeschäftsführerdesHandelsverbandes Unterfranken, nahm an dem Pressegespräch ebenso teil wie mit Axel „Schuhmoden“ Schöll ein alteingesessener Einzelhändler und Kreisvorsitzender des Handelsverbands. Der nahm wie gewohnt gar kein Blatt vor den Mund und sprach zunächst die von ihm ungeliebte Stadtgalerie („die ECE-Jungs machen eh ihr Ding und lassen uns links liegen“) an und dass an sich die Stadtverwaltung sich Gedanken machen müsse, wie man Läden wie Christ, Douglas oder C&A (die haben da drin auch keine Freude mehr…“) zurückholen könne in die Innenstadt. Immerhin lobte Schöll ECE für die Bereitschaft, in der Pandemie Mieten zu senken, „in der Stadt sind da einige Eigentümer ja gar nicht kompromissbereit“.

Dann der Vorwurf, das Rathaus befinde sich „im Dauerschlaf“: Proaktiv müsse man nun werden, sich nicht nur für eine von acht Modellstädte bayernweit nach dem Vorbild Tübingen bewerben, sondern auch dann etwas tun, wenn man angesichts seiner Vermutung, das würden 80 bis 100 Städte versuchen, nicht zum Zuge kommt. „Wenn der OB Eier in der Hose hat, ziehen wir das in Schweinfurt auch ohne Genehmigung durch!“ Ein Testzentrum auf dem Marktplatz plus in zwei Leerständen, negativ Getestete dürfen dann mit Tagesticket shoppen. 4000 bis 10.000 Tests schaffe Tübingen täglich, ein Schuhhändler hätte ihm gegenüber von „Umsätzen wie im März 2019“ gesprochen. „Die Verwaltung muss etwas tun. Wir Einzelhändler stehen bereits, wir machen morgen um 8 Uhr auf!“ Kritik übte Scholl, letztes Jahr Stadtratskandidat der FDP, an SPD- und CSU-Fraktion für ihre eiligen Anträge für´s Tübinger Modell. „Scheinheilige Heuchelei“ sei das, „die tun das ganze Jahr nichts, damit sie keinen Ärger bekommen mit ihren Parteispitzen!“

Und einmal am Abledern, schickte Scholl in Richtung OB Remelé und seiner Stadtverwaltung hinterher, „der ´Chef´ möge doch mal herausfinden, wie die Corona-Zahlen im vor wenigen Wochen noch so sicheren Schweinfurt so schnell wieder fast an die 200er Grenze anwachsen konnten. Er spricht von einem Gerücht, von dem er hörte, dass eine türkische Hochzeit mit 80 Gästen genehmigt wurde, aber 400 Personen wären gekommen.

Aber es ging beim Pressegespräch ja eigentlich auch um den ökologischen Fußabdruck des Online-Handels und der ständigen Flächenversiegelung durch neue Gewerbegebiete. Um einen „gedankenlosen Online-Boom“, wie es Ulrike Schneider ausdrückt, um bestellte, zurückgeschickte und dann vernichtete Ware, um Lkws und Transporter, die dafür unterwegs sind und um einen Aufruf an die Bevölkerung, nicht mehr im Internet zu bestellen und Teil des Systems zu sein. Das unterstütze sogar, wer noch immer von der Post Päckchen für die Nachbarn annimmt…

Natürlich ginge es mit einer Unterstützung des innerstädtischen Handels. Der sei „kein Thema im Stadtrat“, weiß Schneider. „Wir bekommen es mit, wenn wir mal wieder einen neuen Citymanager haben. Ansonsten ist da aber nichts. Kein Konzept, nichts!“ Beispielsweise könne die Stadt ja mal Flyer entwerfen mit einem Appell an die Bürger pro Läden in der City.

Volker Wedde kann natürlich bestätigen, dass der Online-Handel in der Pandemiezeit deutlich stieg. „Jede Stadt muss sich nun anstrengen, die Kunden zurückzugewinnen.“ Selbst wenn der gesellschaftliche Wert der Innenstädte stieg, weil die Leute mitbekommen hätten, dass ohne geöffnete Läden so eine Fußgängerzone nicht lebens- und liebenswert sein. Den Kampf gegen die Digitalisierung könne man sicher nicht gewinnen, aber es gebe genügend Menschen, die gerne regional online einkaufen würden, wenn die Händler ein Angebot machen. Beispielsweise biete Ebay als reine Plattform Kooperationen an, damit die lokalen Geschäftsleute zeigen können, was sie digital auf Lager haben. Axel Schöll schwebt eine lokale Plattform vor, auf der man auch Theaterkarten oder Bustickets kaufen könne. „Aber da müssen dann auch alle mitmachen und es muss zentral betrieben werden!“ Das wieder als Vorwurf an die Stadt Schweinfurt. Auf das große A wie Amazon bis Z wie – logisch in seiner Branche – Zalando ist Schöll natürlich nicht gut zu sprechen. Auch Schneider von der ödp/Zukunft. nicht angesichts täglich um die 800.000 zurück geschickter Pakete.

Seit 2006 ist die Anzahl der Lebensmittelläden im Kreis Schweinfurt deutlich zurückgegangen, dafür entstanden in der Stadt neue und größere Einheiten mit mehr Kaufkraft. Für kleine Händler lohne es sich nicht mehr. Ulrike Schneider erinnerte an das Bürgerbegehren in Grafenrheinfeld, wo am Ortseingang ein neues Ladenzentrum entstehen soll. „Es ist eine Milchmädchenrechnung, dass dann die Edeka im Ort zumacht und auch die in Bergrheinfeld.“. Wenn die Stadträtin von Würzburg über die Landstraße nach Schweinfurt fährt, dann sieht sie in fast jedem Ort auf der grünen Wiese Kreisverkehre, die in Gewerbegebiete führen. „Wenn eine Gemeinde sowas ablehnt, dann wird es eben in der Nachbargemeinde verwirklicht“, weiß Wedde. Schneider bezeichnet Euerbach als „schlimmstes Beispiel“ und sagt: „Üchtelhausen braucht außerhalb kein Gewerbegebiet, das noch nicht mal fußläufig erreichbar ist für die Bürger. Das könnte man noch verhindern!“

Und im selben Atemzug möchte sie es besser lieber nicht sagen: Es wird wohl nicht zu verhindern sein…

Das Gewerbegebiet in Euerbach

Dass die Zersiedelung Bayerns weiter voran schreitet, weiß Dr. Schneider, die Zahlen aus dem Oktober 2020 parat hatte. Innerhalb eines Jahrzehnts seien fast 600 Quadratkilometer mit Häusern, Straßen und Grünanlagen bebaut worden, das entspricht mehr als dem Stadtgebiet von München und Nürnberg zusammen. 2019 wurde im täglichen Schnitt 10,8 Hektar verbaut! Das sind ca. 15 Fußballfelder, die täglich (!) unter neuen Wohnhäusern, Gewerbehallen, Parkplätzen oder Straßen verschwinden. Bedauerlich sei, dass es keine Flächenverbrauchsobergrenze gibt, das wäre ein Verstoß gegen die kommunale Planungshoheit. „Was aber, wenn überall Gemeinde- und Stadträte nur an sich denken, Kirchturmpolitik betreiben und hoffen, dass man mal eine Straße oder ein Gewerbegebiet nach ihnen benennt?“, fragt Schneider.

Der bayerische Städtetag fordert einen konsequenten Vorrang der Innenentwicklung  in kommunalen Planungen, doch ohne verbindliche Vorgaben werde das nicht klappen. Überdurchschnittlich stark betroffen von der Flächenversiegelung sei Unterfranken ! Die freiwillige Selbstbeschränkung beim Flächenverbrauch funktioniere nicht! Sie sei „ohne jede Wirkung, wie man auch in unserer Region unschwer erkennt. Mit dieser Vielzahl an monotonen, überdimensionierten Einkaufszentren auf der grünen Wiese versiegeln wir nicht nur wertvollen Boden, sondern zerstören auch zunehmend das fränkische Landschaftsbild – ohne Not und getrieben von eigennütziger Kirchturmpolitik.“



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